Pressekonferenz: Digitale Teilhabe oder Exklusion?

Unzureichende Erreichbarkeit der Behörden in der Pandemie I Rückmeldungen der Träger vor Ort: Klient*innen hilflos und außen vor I Verbände übernehmen oftmals Aufgaben der Behörden in der Pandemie

In der Corona-Pandemie hat die Digitalisierung vielerorts an Fahrt aufgenommen. Das ist positiv, denn Digitalisierung verändert und beschleunigt Kommunikation und macht Informationen und Wissen schneller verfügbar. Zugleich hat die Pandemie aber auch bestehende knappe personelle Ressourcen und fehlende digitale Ausstattung deutlich gemacht.

Zudem haben sich Arbeitsweisen der Behörden verändert. So kann der Großteil der Jobcenter, Agenturen für Arbeit, Familienkassen, Jugendämter, Schwimmbäder nur telefonisch oder nur online erreicht werden. Anträge müssen online ausgefüllt, gescannt, gemailt werden. Für Publikumsverkehr sind weiterhin viele Stellen noch geschlossen. Das führt bei Klient*innen der Wohlfahrtsverbände zu teils dramatischen Situationen. Dies ist nicht hinnehmbar. Insbesondere bei Jobcentern handelt es sich um Behörden, auf die viele Menschen existenziell angewiesen sind. Präsenztermine müssen in allen Jobcentern und Arbeitsagenturen möglich gemacht werden.

„Es gibt keine telefonische Kontaktmöglichkeit mehr, sondern nur die Möglichkeit, Mails und Briefe zu versenden. Auch für existenziell bedrohliche Situationen der Klient*innen existiert keine Notfallnummer. Einzelne Fallmanager*innen wollen nicht direkt angeschrieben werden. Sie weisen darauf hin, dass unbedingt eine Sammel-Mailadresse des Jobcenters genutzt werden soll, was die Kommunikation zusätzlich erschwert.“

„Das Gesundheitsamt hat zum zweiten Mal in Folge die Schuleingangsuntersuchungen nicht bzw. dann nur auf Anfrage durchgeführt. Dies bedeutet gerade für Kinder aus einkommensschwachen Familien und für Kinder mit Förderbedarf eine Belastung. Ohne Schuleingangsuntersuchung übernimmt zum Beispiel der Landeswohlfahrtsverband keine Assistenzleistungen für die Kinder.“

„Präsenztermine sind spärlich - zudem dauert es z. T. Wochen, bis man einen Termin bekommt. Teilweise kann man nur auf den AB sprechen. Für Klient*innen, die Unterstützungsleistungen erhalten, eine große Belastung, Wochen der Unsicherheit, bis das Geld kommt.“

Verlagerung von Unterstützungsleistungen

Da viele Ämter keine Termine in Präsenz vereinbaren, wird oftmals an die Wohlfahrtsverbände verwiesen. Der Bericht einer Mitarbeiterin aus der Migrationsberatung steht auch hier für viele weitere, die die Liga Hessen in den letzten Wochen erreicht haben: „Seit der Pandemie sind wir täglich verstärkt damit beschäftigt, Klient*innen zu helfen, ihre Ansprüche gegenüber Jobcentern, Ausländerbehörden, Sozialamt, Familienkasse, Wohngeldstelle geltend zu machen, heißt: Wir helfen bei Übersetzung, Terminvereinbarung, Schreiben von Briefen und Mails, Ausfüllen von Formularen u.a.“ Die Mitarbeitenden sind nicht mehr in der Lage, zeitnahe Termine für ihre eigentlichen Aufgaben anzubieten, weil der Unterstützungsbedarf in behördlichen Angelegenheiten so groß ist.

Digitale Ausgrenzung

Nicht jeder und jede kann den digitalen Weg mitgehen. Viele Klient*innen der Wohlfahrtsverbände sind hiervon ausgeschlossen. Zum Beispiel, weil sie die deutsche Sprache nicht oder kaum sprechen, oder weil sie kognitive Einschränkungen oder Behinderungen haben.

Diese Gruppen werden auch zukünftig nicht alle in der Lage sein digital zu kommunizieren. Andere verfügen nicht über die finanziellen Mittel für Endgeräte oder Datenvolumen. Deshalb müssen Behörden, öffentliche Freizeit- und Kultureinrichtungen auch langfristig sicherstellen, dass auch diese Menschen Zugang zu ihnen zustehenden und existenzsichernden Leistungen, Beratungen und Angeboten erhalten. Neben dem flächendeckenden Ausbau der Digitalisierung muss auch immer ein Präsenzangebot aufrecht erhalten bleiben. Gegebenfalls müssen dieses Präsenz-Beratungsleistungen gegen Vergütung an Freie Träger delegiert werden.

„Arbeitssuchend- und Arbeitslosenmeldungen sind nur digital möglich. Danach muss inzwischen die Identität online nachgewiesen werden. Hierzu sind Klient*innen ohne entsprechende technische Ausstattung nicht in der Lage. Auch hier müssen die Mitarbeiter*innen der Verbände einspringen und stellen ihre Technik zur Verfügung.“

„Fehlende Sprachkenntnisse oder Kenntnisse im Umgang mit digitalen Medien überfordern benachteiligte Menschen. Sie brauchen den persönlichen Kontakt und das persönliche Gespräch vor Ort, das Gesicht und die Mimik des Gegenübers.“

„Der gültige Regelsatz für Grundsicherung hat die Kosten für Digitalisierung unzureichend eingepreist. Wenn die Menschen aber technisch nicht am Ball bleiben können, sind sie auch entsprechend ungeübt und unsicher im Umgang mit dieser Form der Kommunikation, ganz abgesehen von den Barrieren in der Anwendung, z. B. aufgrund ihrer Behinderungen (kognitive, motorische, visuelle, auditive, psychische, suchtbedingte, etc. Einschränkungen).“

Was nötig ist für eine digitale und analoge Teilhabe

Wir wenden uns stellvertretend für die Träger sozialer Arbeit an die Verantwortlichen der Kommunen, der Bundesagentur für Arbeit und auch des Landes Hessen.

  1. Bauen Sie zusammen mit uns analoge und digitale Brücken, damit die Klient*innen nicht auf der Strecke bleiben.
  2. Ermöglichen Sie die Umsetzung eines Grundrechts auf Internetzugang in allen Regionen in Hessen.
  3. Unterstützen Sie sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen vorrangig im Zugang zu freiem Internetanschluss, in der Anschaffung von Hard- und Software und der niedrigschwelligen Vermittlung digitaler Kompetenzen.
  4. Stellen Sie in jeder Behörde die Erreichbarkeit in Präsenz sicher, dort wo das nicht möglich ist, finanzieren Sie die Leistung bei Freien Trägern.
  5. Übernehmen Sie die Digitalisierungskosten in leistungsrechtlichen Vereinbarungen. Die Refinanzierung dieser Kosten für die Anschaffung und den Betrieb von Hard- und Software, Schulung und Support von Mitarbeitenden, Schüler*innen und ehrenamtlichen Helfer*innen sind dringend notwendig.
  6. Unterstützen Sie in der Landesregierung die digitale Transformation und den Strukturwandel bei gemeinnützigen Trägern und Einrichtungen durch eine gezielte Infrastrukturförderung.

Es darf nicht sein, dass die Digitalisierung zu einer Exklusion von Menschen mit kognitiven, motorischen oder sprachlichen Einschränkungen führt. Es braucht eine gute Zusammenarbeit vor Ort und digitale Zugänge und Präsenztermine weiterhin nebeneinander.

 

Ansprechpersonen

Jörg Klärner

Vorsitzender Arbeitskreis „Grundsatz und Sozialpolitik“

joerg.klaerner@dicv-limburg.de

Annette Wippermann

Mitglied Arbeitskreis „Grundsatz und Sozialpolitik“

annette.wippermann@paritaet-hessen.org